Ursachen, Diagnostik und Therapie der vielfachen Chemikalienüberempfindlichkeit (MCS) stellen Wissenschaft und Ärzte vor Probleme


06/1996, 28.02.1996


Gemeinsame Presseerklärung des Umweltbundesamtes und des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin

Fragen zu den Ursachen und zur Diagnostik eines Beschwerdebildes, das bisher mit dem Begriff "Multiple Chemical Sensitivity", kurz MCS, umschrieben wurde, standen im Mittelpunkt eines internationalen Wissenschaftlertreffens, zu dem die Weltgesundheitsorganisation, WHO, auf Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit nach Berlin geladen hatte. Beteiligt waren das Umweltbundesamt, UBA, und das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, BgVV, die bereits 1995 ein erstes orientierendes Fachgespräch zu diesem Thema geführt hatten. Die Klärung der Ursachen als Basis für präventive Maßnahmen, Vorschläge für ein einheitliches diagnostisches Vorgehen und die Entwicklung von Therapieansätzen, die eine effektive und effiziente Behandlung ermöglichen, halten die Wissenschaftler für dringend geboten. Für abschließende Antworten auf diese Fragen - das wurde im Verlauf der Tagung deutlich - reicht der aktuelle Wissensstand nicht aus.

Bisher wurde unter dem Begriff "MCS" ein ungeklärtes Beschwerdebild verstanden, bei dem bereits kleinste Mengen verschiedenartiger chemischer Substanzen bei einer kleinen Zahl von Personen vielfache Symptome hervorrufen. Die Experten waren sich jedoch darüber einig, daß auch andere Ursachen für gleichartige oder ähnliche Beschwerdebilder vermutet werden. Als Konsequenz einigten sie sich darauf, künftig als zutreffendere und umfassendere Beschreibung den Begriff der "Idiopathischen, d.h. ohne erkennbare Ursache entstandenen, umweltbezogenen Unverträglichkeiten" (Idiopathic Environmental Intolerances [IEI]) zu verwenden. Dieser Begriff umfaßt über die bisher mit "MCS" beschriebenen hinaus eine ganze Reihe ähnlicher gesundheitlicher Störungen. Die Experten forderten, daß der Begriff "IEI" nur nach sorgfältiger Untersuchung der Patienten und der Prüfung anderer möglicher Erklärungen für die Symptome benutzt werden sollte.

Patienten mit "Idiopathischen umweltbezogenen Unverträglichkeiten" fühlen sich in ihrer Gesundheit so stark beeinträchtigt, daß sie zunehmend weniger in der Lage sind, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zu sozialen Defiziten kommen häufig wirtschaftliche Einbußen hinzu, wenn der Beruf nicht mehr oder nur noch eingeschränkt ausgeübt werden kann. In dem Bestreben, giftigen Einflüssen aus dem Wege zu gehen, geraten die Patienten zunehmend in eine Isolation und damit in einen nur schwer zu durchbrechenden Teufelskreis. Behandelnde Ärzte befinden sich in einem Dilemma zwischen der offensichtlichen Not der Patienten und dem aktuellen "Unwissensstand".

Die Ergebnisse der WHO-Tagung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Experten waren sich darin einig, daß es Patienten gibt, die über eine Vielzahl unerklärbarer umweltbezogener Unverträglichkeiten berichten. Diese Patienten stehen unter starkem Leidensdruck; sie brauchen Mitgefühl und professionelle, ärztliche Hilfe.
  • Untersuchungen sollten auf einem ganzheitlichen Verständnis des Patienten beruhen. Sie sollten sein psychosoziales Umfeld ebenso berücksichtigen wie mögliche schädliche Umwelteinflüsse. Alle anderen Krankheiten, die einer spezifischen Therapie bedürfen, müssen bei der Diagnosestellung sorgfältig ausgeschlossen werden.
  • Viele, heute im Rahmen der Diagnostik herangezogene Verfahren haben sich zum Nachweis der "Idiopathischen umweltbezogenen Unverträglichkeiten" nicht bewährt.
  • Wirksame Behandlungsmethoden können erst ermittelt werden, wenn die Ursachen geklärt sind. Bis zur endgültigen Klärung der Ursachen und damit der zu empfehlenden therapeutischen Maßnahmen, ist eine verständnisvolle und unterstützende Behandlungsweise angezeigt. Ergänzend hierzu gelten sowohl die Vermeidung schädigender Umwelteinflüsse als auch psychologisch/psychiatrische Therapieansätze als gängige Vorgehensweisen. Hierbei ist allerdings darauf zu achten, daß Methoden der Expositionsvermeidung nicht zu einer gesellschaftlichen und sozialen Isolation der Patienten führen.
  • Die Fachleute waren sich darin einig, daß von aggressiven Behandlungsmethoden, wie z.B. der Chelat-Therapie oder der Entgiftung durch Sauna, abgesehen werden sollte, da Schäden für den Patienten nicht ausgeschlossen werden können.
  • Nach Ansicht der Experten sollte sich der Forschungsbedarf auf die Ermittlung der Natur und Ursachen umweltbezogener Unverträglichkeiten konzentrieren. Die Schlüsselfrage ist, ob Personen mit IEI in der Lage sind, im Rahmen von Placebo-kontrollierten Doppelblindversuchen zwischen den von ihnen als ursächlich angesehenen Umwelteinflüssen (z.B. Chemikalien oder elektromagnetische Felder) und Placebos zu unterscheiden. Die Fähigkeit zur Unterscheidung würde auf eine toxikologische Ursache hindeuten, anderenfalls wären eher seelische Ursachen anzunehmen.
  • Die Wissenschaftler forderten eine sachliche und rationale Auseinandersetzung mit den Problemen und wiesen darauf hin, daß dazu eine Kooperation auf internationaler Ebene von entscheidender Bedeutung ist. Die Information der Öffentlichkeit sollte auf allgemein anerkannten Erkenntnissen und nicht auf Aussagen spekulativen Inhalts beruhen.

Es ist beabsichtigt, als nächsten Schritt auf nationaler Ebene ein Treffen aller im Gesundheitswesen Verantwortlichen, Ärzte, Gesundheitsdienste, Institutionen, Behörden und Versicherungsträger, durchzuführen. Ziel soll es sein, koordinierte Handlungsansätze für den sachgerechten Umgang mit umweltbezogenen Beschwerdebildern zu finden.


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